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12. Kapitel
Die Notwendigkeit der Keuschheit.
Die Keuschheit ist die Lilie unter den Tugenden. Sie macht die Menschen fast den Engeln gleich. Nichts ist schön außer durch die Reinheit; die Reinheit des Menschen aber ist die Keuschheit. Man nennt die Keuschheit Ehrbarkeit und ihren Besitz Ehre. Sie heißt auch Unversehrtheit und ihr Gegenteil Verdorbenheit. Kurz gesagt, sie hat allein den Ruhm, die schöne und leuchtend weiße Tugend der Seele und des Leibes zu sein.
Es ist niemals erlaubt, seinen Leib zu irgendeinem unkeuschen Vergnügen zu missbrauchen. Nur in der rechtmäßigen Ehe ist der sinnlichen Lust Raum gegeben; ihre Heiligkeit vermag das seelische Abgleiten auszugleichen, das die sinnliche Freude verursacht. Außerdem muss in der Ehe die Absicht ganz rein sein, so dass die eheliche Hingabe, in reiner Absicht vollzogen, doch nicht unehrenhaft ist, sofern ihr Unschönes anhaftet. Gleich der Perlmutter, die keinen Tropfen aufnehmen kann, der nicht vom Himmel kommt, kennt das keusche Herz sinnliche Freuden nur in der Ehe, die vom Himmel angeordnet ist. Außerhalb dieser ist es ihm nicht einmal gestattet, daran zu denken und freiwillig an unreinen Vorstellungen festzuhalten.
Die erste Stufe dieser Tugend besteht darin, dass du dich jeder sinnlichen Lust enthältst, die außerhalb der Ehe liegt oder innerhalb der Ehe gegen die von Gott bestimmte Ordnung verstößt.
Die zweite Stufe erblicke ich darin, dich soviel als möglich aller unnötigen und überflüssigen sinnlichen Freuden und Vergnügungen zu enthalten, auch wenn sie erlaubt sind.
Die dritte Stufe erreichst du, wenn du dein Herz nicht an sinnliche Freuden und Vergnügungen hängst, die pflichtgemäß und notwendig sind. Wenn es auch deine Pflicht ist, dich den notwendigen sinnlichen Freuden hinzugeben, die im Zweck und im Wesen der Ehe begründet sind, dein Geist und dein Herz sollen nicht daran hängen.
Im Übrigen ist diese Tugend unbedingt notwendig. Die Verwitweten brauchen eine mutige Keuschheit, die nicht nur gegenwärtige und zukünftige Gegenstände der Sinnlichkeit abweist, sondern auch den sinnlichen Vorstellungen widersteht, wie sie die Erinnerung an den Genuss der sinnlichen Freuden während der Ehe hervorrufen kann; ihre Seele ist deshalb für unanständige Lockungen empfänglicher. Der hl. Augustinus bewunderte deshalb seinen Freund Alypius, der die sinnlichen Verirrungen völlig vergaß und verachtete, denen er sich in seiner Jugend einige Male hingegeben hatte.
Unversehrte Früchte kann man auf Stroh, im Sand oder in ihren Blättern lange Zeit aufbewahren; sind sie aber einmal angeschlagen, dann kann man sie nur in Honig oder Zucker eingemacht haltbar machen. So kann man auch die unversehrte Keuschheit auf verschiedene Weise bewahren; ist sie aber einmal verletzt, dann kann nur mehr eine hervorragende Frömmigkeit sie bewahren, die der wahre Zucker und Honig des Geistes ist.
Jungfräuliche Menschen brauchen eine einfache und zarte Keuschheit, um ihrem Herzen alle vorwitzigen Gedanken fernzuhalten und alle unlauteren Vergnügungen mit unbedingter Verachtung abzuweisen; sie sind wirklich nicht wert, von Menschen begehrt zu werden, für Esel und Schweine taugen sie eher. Reine Seelen mögen sich sehr vor jedem Zweifel hüten, dass die Keuschheit unvergleichlich besser ist als alles, was im Widerspruch zu ihr steht. Wie der hl. Hieronymus sagt, weckt der böse Feind in jungfräulichen Seelen den heftigen Wunsch nach sinnlichen Freuden, indem er sie ihnen köstlich vorgaukelt, als sie in Wirklichkeit sind. Da ihnen das Unbekannte so süß scheint, werden sie nicht selten dadurch verwirrt.
Wie der kleine Schmetterling neugierig die Flamme umflattert, um zu sehen, ob sie ebenso angenehm wie schön ist, und in diesem Verlangen nicht ablässt, bis ihn die Flamme versengt hat, so lassen sich auch junge Leute manchmal von einer falschen und dummen Einschätzung der Freuden sinnlicher Lust zu neugierigem Grübeln verleiten, bis sie sich schließlich in ihre Flammen stürzen und darin zugrunde gehen. Dabei sind sie noch dümmer als die Schmetterlinge, die hinter der Schönheit der Flamme das Süße suchen; sie wissen ja, dass das, was sie lockt, überaus unehrenhaft ist, und doch schätzen sie diese unsinnige und verzehrende Lust so hoch ein.
Was aber die Verheirateten angeht, so ist gerade ihnen die Keuschheit sehr notwendig, obwohl einem dies zunächst nicht recht einleuchten will. Für sie besteht sie nicht darin, sich der sinnlichen Lust zu enthalten, sondern darin, sie zu zügeln. Meiner Ansicht nach ist das Gebot „Zürne, aber sündige nicht!“ viel schwerer zu beobachten als „Zürne nicht!“ Es ist leichter, den Zorn zu vermeiden, als ihn zu regeln. So ist es auch leichter, sich der sinnlichen Lust ganz zu enthalten, als sie mit Maß zu genießen. Wohl gibt die heilige Freiheit der Ehe eine besondere Kraft, das Feuer der Begierlichkeit zu dämpfen, aber die Schwachheit jener, die sie genießen, überschreitet leicht die Grenzen des Erlaubten zur Zügellosigkeit, des Gebrauches zum Missbrauch. Man sieht oft reiche Leute stehlen, nicht aus Armut, sondern aus Geiz; ebenso sieht man auch viele Verheiratete sich Ausschweifungen hingeben aus reiner Maßlosigkeit und Geilheit, obwohl ihnen genügen sollte und könnte, was ihnen gestattet ist. Ihre Begierlichkeit ist wie fliegendes Feuer, das da und dort versengt und nirgends bleibt. Es ist immer gefährlich, starke Arzneien einzunehmen; sie schaden sehr, wenn man mehr als notwendig nimmt oder wenn sie nicht gut zubereitet sind. So wurde auch die Ehe eingesetzt und gesegnet als Heilmittel gegen die Begierlichkeit; sie ist gewiss ein sehr gutes Mittel dagegen, aber ein sehr heftiges und daher auch sehr gefährliches, wenn es nicht maßvoll angewendet wird.
Schließlich will ich noch bemerken, dass die Männer durch Krankheit oder Geschäfte oft länger ihren Frauen fern sind; deshalb tut den Eheleuten eine zweifache Keuschheit Not: vollständige Enthaltsamkeit, wenn sie aus den genannten Gründen voneinander getrennt sind, und das Maßhalten, wenn sie in gewohnter Weise wieder vereint sind.
Die hl. Katharina von Siena sah unter den Verdammten mehrere schwere Qualen leiden, weil sie die Heiligkeit der Ehe verletzt hatten. Sie litten nicht so sehr wegen der Schwere ihres Vergehens, sagte sie (Mord und Fluchen sind schlimmere Sünden), aber solche Menschen sündigen, ohne sich ein Gewissen daraus zu machen, und verharren folglich lange in diesem Zustand.
Du siehst also, dass die Keuschheit für jeden notwendig ist. „Suchet den Frieden mit allen und die Heiligkeit, ohne die niemand den Herrn schauen kann“, sagt der Apostel (Hebr 12,14). Wie Hieronymus und Chrysostomus bemerken, versteht Paulus unter Heiligkeit die Keuschheit. Nein, niemand wird Gott schauen, der nicht keusch ist; keiner wird in seinem heiligen Zelt wohnen, der nicht reinen Herzens ist (Ps 15,1; 24,4). Der Heiland selbst sagt: „Die Hunde und die Unreinen werden daraus verbannt sein“ (Offb 22,15). Andererseits aber: „Selig, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen“ (Mt 5,8).
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