Anweisungen und Übungen, um den ersten Wunsch nach einem frommen Leben in einen festen Entschluss umzuwandeln
Erster Teil
     
 

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2. Kapitel
Eigenart und Wert der Frömmigkeit.

Als die Israeliten sich anschickten, ins Gelobte Land zu ziehen, sagte man ihnen, diese Gegend „fresse seine Bewohner“ (Num 13,32f), d. h. das ungesunde Klima kürze die Lebenszeit ab; ferner seien die Einwohner Ungeheuer, wie Heuschrecken fräßen sie andere Menschen auf. Ebenso verleumdet die Welt die heilige Frömmigkeit, soviel sie kann. Sie dichtet den Frommen ein verdrießliches, trauriges und verbittertes Gesicht an, dann behauptet sie, die Frömmigkeit mache griesgrämig und unausstehlich. Josua und Kaleb verkündeten laut, das Gelobte Land sei gut und schön, es zu besitzen, müsse eine Freude sein (Num 14,7f). So versichert uns der Heilige Geist durch den Mund der Heiligen und der Herr sagt es selbst (Mt 11,28): fromm leben ist schön, beglückend und liebenswert!
Die Welt sieht die Frommen fasten, beten, Unrecht ertragen, den Kranken dienen, die Armen beschenken, Nachtwachen halten, ihren Zorn niederringen, ihre Leidenschaften bezähmen und überwinden, irdischen Vergnügungen entsagen und ähnliches, was schwer und hart erscheint. Die Welt sieht aber nicht die innere Frömmigkeit des Herzens, die all dies begehrenswert, schön und leicht macht. Beobachte die Bienen auf dem Thymian: Sie finden dort einen bitteren Saft; sie verwandeln ihn aber in süßen Honig, indem sie ihn aufnehmen. Das ist ihre besondere Fähigkeit. So fühlen die Frommen gewiss das Bittere an den Werken der Abtötung; sie werden ihnen jedoch süß und angenehm, während sie mutig an die Ausführung gehen. Feuer und Flammen, Rad und Schwert erschienen den Märtyrern wie Blumen und Düfte, eben weil sie fromm waren. Wenn nun die Frömmigkeit den schlimmsten Qualen und sogar dem Tod ihre Bitterkeit nimmt, was wird dann erst ihre Wirkung auf die Werke der Tugend sein!
Der Zucker süßt unreife Früchte. Er nimmt aber auch reifen Früchten das Herbe oder Schädliche. Ebenso nimmt die Frömmigkeit der Abtötung das Bittere, verhindert aber auch, dass die geistlichen Freuden ihr schaden. Sie nimmt den Armen ihren Kummer, den Reichen die Gier, den Bedrängten die Trostlosigkeit, den vom Schicksal Begünstigten die Anmaßung; sie überwindet die Traurigkeit der Einsamen und die Ausgelassenheit in der Gesellschaft. Sie ist wie das Feuer im Winter, wie kühler Tau im Sommer. Sie weiß im Reichtum zu leben und sich in Armut zu schicken; Achtung und Verachtung sind ihr in gleicher Weise nützlich; sie nimmt mit gleicher Gelassenheit Freude und Schmerz hin. Zu all dem verleiht sie der Seele eine wunderbare Anmut.
Betrachte die Jakobsleiter (Gen 28,12); sie ist ein treffendes Bild des frommen Lebens. Die beiden Holme stellen das Gebet dar, das uns die Gottesliebe erbittet, und die Sakramente, die sie uns mitteilen. Die Sprossen der Leiter sind die verschiedenen Stufen der Liebe, auf denen man von Tugend zu Tugend gelangt; auf ihnen steigt man herab, um den Mitmenschen zu helfen und sie zu ertragen, oder steigt empor (durch die Beschauung) zur Liebesvereinigung mit Gott.
Betrachte jene, die auf der Leiter stehen: Es sind Menschen mit Engelherzen oder Engel mit menschlicher Gestalt. Sie sind nicht jung, sehen aber kraftvoll und gelenkig aus; sie haben Flügel, um sich durch das heilige Gebet zu Gott zu erheben, aber auch Füße, um mit den Menschen zu verkehren in heiligem, liebenswürdigem Wandel. Ihr Antlitz ist schön und heiter, sie nehmen alles in Ruhe und Sanftmut an. Das Haupt, die Füße und Arme sind unbedeckt, weil ihre Gedanken, Wünsche und Handlungen kein anderes Ziel verfolgen, als Gott zu gefallen. Im übrigen ist ihr Körper bedeckt mit einem schönen, leichten Gewand, weil sie sich wohl der Welt und ihrer Güter bedienen, aber in ganz reiner und gerader Absicht, und nur gebrauchen, was ihr Stand verlangt. Das sind die frommen Menschen.
Glaube mir, die Frömmigkeit ist das Schönste, was es gibt. Sie ist die Königin der Tugenden, die Vollendung der Liebe. Ist die Liebe eine Pflanze, dann ist die Frömmigkeit ihre Blüte; ist sie ein Edelstein, dann ist die Frömmigkeit sein Glanz; ist sie ein kostbarer Balsam, dann ist die Frömmigkeit dessen Duft, ein lieblicher Duft, der die Menschen erquickt und die Engel erfreut.

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