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1. Kapitel
Geordnetes Tugendstreben (I).
Die Bienenkönigin fliegt nicht aus, ohne von ihrem kleinen Volk umgeben zu sein; so zieht die Liebe nicht in ein Herz ein, ohne in ihrem Gefolge die anderen Tugenden zu haben, denen sie Befehle erteilt, die sie den Erfordernissen entsprechend einsetzt, wie ein Hauptmann seine Soldaten, jedoch nicht alle gleichzeitig und in gleicher Weise, nicht immer und überall. Der Gerechte ist „wie ein Baum, gepflanzt an Wasserläufen, der Frucht trägt zu seiner Zeit“ (Ps 1,3); denn wenn die Liebe eine Seele durchdringt, bringt sie in ihr die Tugendwerke hervor, jedes zu seiner Zeit.
Musik, im Allgemeinen angenehm, ist unangebracht zur Zeit der Trauer, sagt das Sprichwort (Sir 22,6). In ihrem Streben, eine bestimmte Tugend zu üben, begehen manche den großen Fehler, dass sie sich darauf versteifen, bei jeder Gelegenheit Akte dieser Tugend zu setzen. Wie die bekannten Philosophen des Altertums wollen sie entweder immer weinen oder immer lachen; ja sie tadeln und bekritteln auch noch jene, die nicht ständig mit ihren Lieblingstugenden beschäftigt sind wie sie. Man soll sich aber nach den Worten des Apostels „freuen mit den Fröhlichen und weinen mit den Weinenden“ (Röm 12,15). „Die Liebe ist geduldig, gütig“ (1 Kor 13,4), weitherzig, klug, nachgiebig.
Trotzdem gibt es Tugenden, die man fast immer nötig hat, weil sie nicht nur ihrer eigenen Werke wegen geübt werden, sondern eigentlich jede andere Tugendhandlung begleiten sollen. – Man hat nicht oft Gelegenheit, die Tugenden der Stärke, der Großmut, der Freigiebigkeit zu üben; aber die Sanftmut, das Maßhalten, die Redlichkeit, die Demut sollen allen Handlungen unseres Lebens ihr Gepräge geben. Es gibt wohl erhabenere, aber keine notwendigeren Tugenden als diese. Zucker schmeckt besser als Salz, aber Salz braucht man öfter. Deshalb sollen wir auch diese Tugenden immer in Bereitschaft haben, da wir sie praktisch immer brauchen.
Unter den Tugenden müssen wir jene vorziehen, die den Pflichten unseres Berufes entsprechen, nicht jene, die uns mehr zusagen. Die hl. Paula liebte strenge Kasteiungen, um durch sie geistliche Tröstungen zu erlangen; zum Gehorsam gegen ihre Vorgesetzten aber war sie verpflichtet. Der hl. Hieronymus tadelte sie deshalb, dass sie gegen die Weisung ihres Bischofs zu viel gefastet habe. Es war die Aufgabe der Apostel, das Evangelium zu predigen und den Seelen das himmlische Brot zu reichen; sie urteilten daher richtig, dass sie sich von dieser heiligen Pflicht nicht abhalten lassen durften durch den Dienst an den Armen, so schön diese Tugend auch ist.
Jeder Beruf verlangt besondere Tugenden; ein Bischof muss andere Tugenden pflegen als ein Fürst, andere der Soldat als die verheiratete Frau, andere eine Witwe. Alle müssen zwar alle Tugenden üben, aber nicht in gleicher Weise; jeder soll sich vielmehr besonders um jene bemühen, die der Lebensweise entsprechen, zu der er berufen ist.
Abgesehen von den Standestugenden müssen wir unter den übrigen die wertvollsten wählen, nicht die auffallendsten. – Die Kometen erscheinen dem Auge größer als die Sterne, sind aber unvergleichlich kleiner und geringer; sie erscheinen aber größer, weil sie uns näher sind. So gibt es auch gewisse Tugenden, die uns näher liegen und deshalb augenfälliger, sozusagen greifbar erscheinen; daher werden sie gewöhnlich höher eingeschätzt. So zieht man meist eine Geldspende einem geistlichen Almosen vor; den Bußgürtel, das Fasten, die Geißel, Kasteiungen des Leibes der Sanftmut, Güte, Bescheidenheit und den Überwindungen des Herzens, die zweifellos wertvoller sind. – Wähle also die wichtigen Tugenden, nicht die beliebten, die vorzüglichen, nicht die auffallenden, die besseren, nicht die glänzenden.
Es ist von Nutzen, wenn sich jeder die besondere Übung einer Tugend angelegen sein lässt; nicht um die anderen zu vernachlässigen, sondern um seinen Geist in Tätigkeit und Zucht zu halten. Dem heiligen Bischof Johannes von Alexandrien erschien ein schönes Mädchen, glänzender als die Sonne, königlich geschmückt, mit einem Kranz von Olivenzweigen gekrönt, und sagte: „Ich bin die älteste Tochter des Königs; wählst du mich zur Freundin, dann führe ich dich zu ihm.“ Er verstand, dass es die Barmherzigkeit gegen die Armen war, die Gott ihm empfahl, und gab sich dieser Tugend in einem Maß hin, dass er der „Almosenspender“ genannt wird.
Eulogius von Alexandrien wünschte Gott in besonderer Weise zu dienen; da er weder zum Einsiedler noch zum Mönch kräftig genug war, nahm er einen völlig verkommenen, mit Aussatz bedeckten Armen zu sich, um auf diese Weise Nächstenliebe und Abtötung zu üben. Um seine Übung noch wertvoller zu machen, legte er das Gelübde ab, ihn zu ehren und ihm zu dienen, wie ein Knecht seinem Herrn und Meister. Als nun sowohl der Kranke als auch Eulogius versucht waren, sich wieder zu trennen, fragten sie den großen hl. Antonius um Rat, der ihnen antwortete: „Davor hütet euch wohl! Ihr seid beide nahe eurem Ziel; findet euch der Engel nicht beisammen, dann lauft ihr Gefahr, eure Krone zu verlieren.“
Der heilige König Ludwig besuchte die Spitäler und pflegte die Kranken mit eigener Hand, als wäre er dafür angestellt; der hl. Franz von Assisi liebte besonders die Armut, die er seine Braut nannte, der hl. Dominikus das Predigen, wovon sein Orden auch den Namen hat. Der hl. Gregor liebte es, nach dem Vorbild Abrahams die Pilger liebevoll aufzunehmen, und wie jener empfing er den Herrn der Herrlichkeit in der Gestalt eines Pilgers. Tobias übte das Liebeswerk, die Toten zu begraben; die hl. Elisabeth, obwohl eine hohe Fürstin, erachtete die Verdemütigung für das größte; die hl. Katharina von Genua widmete sich, nachdem sie Witwe geworden, der Krankenpflege. Kassian erzählt, dass ein frommes Mädchen an den hl. Athanasius herantrat mit dem Wunsch, in der Geduld geübt zu werden; er schickte ihr eine arme, stets missmutige und zornige, reizbare und unausstehliche Witwe, die das fromme Mädchen ohne Unterlass quälte, so dass es Gelegenheit genug fand, Sanftmut und Nachgiebigkeit zu üben.
So widmen sich von den Dienern Gottes die einen dem Krankendienst, die anderen den Armen, diese der religiösen Unterweisung der Kinder, der Bekehrung der verlorenen und in die lrre gegangenen Seelen, jene dem Schmücken der Kirchen und Altäre, andere der Vermittlung von Frieden und Eintracht zwischen den Menschen. Gleich jenen, die auf der Leinwand mit verschiedenfarbigen Seiden-, Silber- und Goldfäden allerlei Blumen sticken, unternehmen sie ein besonderes Werk der Frömmigkeit, um auf seinem Grund die Vielfalt der anderen Tugenden sichtbar zu machen; durch die Beziehung zu ihrer Hauptübung erhalten alle Handlungen und Affekte ihre Einheit und Ordnung und lassen ihren Geist erkennen.
Haben wir besondere Schwierigkeiten mit einem bestimmten Fehler, dann verlegen wir uns soviel wie möglich auf die dem Fehler entgegengesetzte Tugend und beziehen auch die anderen Tugenden darauf. So werden wir unseren Feind besiegen und dabei in allen Tugenden vorankommen. Habe ich unter Angriffen des Hochmuts oder des Zorns zu leiden, dann muss ich meine Aufmerksamkeit besonders auf die Demut und Sanftmut richten und mich in diesem Sinne aller Gebete, der Sakramente, der Tugenden der Klugheit, Beständigkeit und Mäßigkeit bedienen. Der Eber wetzt seine Hauer an den anderen Zähnen; diese werden dadurch ebenfalls geschliffen und bleiben scharf. So muss der Mensch eine Tugend, in der er sich vervollkommnen will, weil er sie zu seiner Verteidigung besonders notwendig hat, durch die Übung der anderen Tugenden feilen und schleifen; diese werden ihrerseits noch vorzüglicher und besser, während sie zur Vollendung der Haupttugend beitragen. – Ijob übte sich während der vielen Versuchungen, die ihn bedrängten, vor allem in der Geduld; dadurch wurde er heilig und reich auch an allen Tugenden.
Gregor von Nazianz sagt, dass manche den Gipfel des Tugendlebens durch die vollendete Übung einer einzigen Tugend erklommen, und er führt Rahab an, die durch Gastfreundschaft zum höchsten Ruhm gelangte (Jos 2,3–21; 6,22–25; Hebr 11,31; Jak 2,25). Das gilt natürlich nur, wenn diese Tugend vorzüglich, mit großem Eifer und mit großer Liebe geübt wird.
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