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5. Kapitel
Die innere Demut.
Du möchtest aber tiefer in die Demut eingeführt werden; denn was ich dir bisher sagte, betrifft mehr die Klugheit als die Demut. Ich gehe also auf deinen Wunsch ein.
1. Manche wollen nicht an die Gnaden denken, die Gott ihnen im besonderen geschenkt hat, und wagen sie nicht zu betrachten, weil sie fürchten, darüber eitel und eingebildet zu werden; das ist aber ein Irrtum. Nach dem hl. Thomas von Aquin ist der Weg zur Gottesliebe die Erwägung seiner Wohltaten. Gnaden, die wir im besonderen empfangen, bewegen uns mehr als jene, die alle erhalten, daher sollen wir sie auch eingehender betrachten.
Gewiss kann uns angesichts der Güte Gottes nichts mehr demütigen als die Fülle seiner Wohltaten und angesichts seiner Gerechtigkeit nichts mehr erniedrigen als die Menge unserer Sünden. Erwägen wir, was er für uns getan und was wir gegen ihn verbrochen haben; ebenso wie wir unsere Fehler genau betrachten, so erwägen wir auch die Gnaden Gottes in allen Einzelheiten.
Wir brauchen nicht zu fürchten, dass uns die Kenntnis dessen aufbläht, was Gott in uns hineingelegt hat, wenn wir uns nur die Wahrheit vor Augen halten, dass nicht von uns stammt, was Gutes in uns ist. Sind die Maulesel weniger dumm und stinkend, wenn sie kostbares und duftendes Gepäck eines Fürsten tragen? Was haben wir denn Gutes, das wir nicht empfangen hätten? Haben wir es aber empfangen, welches Recht haben wir dann, darüber stolz zu sein? Wir werden im Gegenteil durch die eingehende Betrachtung der empfangenen Gnaden nur demütiger werden, denn die Erkenntnis führt zur Erkenntlichkeit. Fühlst du aber beim Blick auf die Gnaden, die Gott dir gegeben, den Kitzel der Eitelkeit, dann schau auf deinen Undank, deine Unvollkommenheit und Armseligkeit, und du wirst unfehlbar geheilt. Denken wir an das, was wir verbrochen, als Gott nicht mit uns war, dann wird uns klar, dass das nicht auf unserem Boden gewachsen und nicht von uns ist, was wir vollbringen, wenn er mit uns ist. Wir werden es genießen und uns über seinen Besitz freuen, aber Gott allein die Ehre dafür geben, denn er allein ist dessen Urheber. So bekennt auch die allerseligste Jungfrau, dass Gott Großes an ihr getan, aber nur, um sich selbst zu erniedrigen und Gott zu preisen: „Hoch preist meine Seele den Herrn, denn er hat Großes an mir getan“ (Lk 1,46ff).
2. Wir sagen oft, dass wir nichts sind, das verkörperte Elend und das Schlechteste auf der Welt; wir wären aber sehr betroffen, wenn man uns beim Wort nähme und uns öffentlich als das hinstellte, was wir uns selbst genannt haben. Wir tun, als wollten wir fliehen und uns verstecken, aber nur, damit man uns nachlaufe und suche; wir tun, als wären wir die Letzten und möchten ganz unten am Tisch sitzen, aber nur, um leichter aufrücken zu können. Wahre Demut will nicht demütig erscheinen und äußert sich kaum in demütigen Worten; sie will nicht nur die anderen Tugenden verbergen, sondern vor allem sich selbst. Wäre es ihr gestattet zu lügen, zu täuschen oder den Mitmenschen Ärgernis zu geben, sie trüge Anmaßung und Hochmut zur Schau, um sich darunter zu verstecken, unerkannt und verborgen zu bleiben.
Höre also meine Meinung: Entweder gebrauchen wir überhaupt keine Ausdrücke der Demut, oder wir sagen sie wirklich mit der inneren Überzeugung, die unseren Worten völlig entspricht. Schlagen wir doch niemals die Augen nieder, ohne auch im Herzen demütig zu sein! Tun wir nicht, als ob wir die Letzten sein wollten, wenn das nicht wirklich unsere ehrliche Absicht ist. Das halte ich für eine so allgemein gültige Regel, dass ich keine Ausnahme davon gelten lasse. Ich füge nur hinzu, dass wir manchmal aus Höflichkeit anderen den Vortritt anbieten müssen, obwohl wir wissen, dass sie ihn nicht annehmen werden. Das ist nicht Doppelzüngigkeit und falsche Demut; denn das Anbieten allein ist schon der Ansatz zu einer Ehrung, zu der wir uns wenigstens anschicken sollen, wenn wir sie schon nicht ganz erweisen können. Das gleiche gilt für ehrende und achtungsvolle Worte, die streng genommen nicht ganz der Wahrheit zu entsprechen scheinen; in Wirklichkeit sind sie dann wahr, wenn jener, der sie ausspricht, wirklich die Absicht hat, den zu ehren und zu achten, dem er sie sagt. Wenn auch die Ausdrücke etwas übertrieben sind, tun wir damit nichts Schlechtes, falls der allgemeine Brauch es so erfordert. Allerdings wünschte ich, die Worte mögen mit unserem Denken und Fühlen möglichst übereinstimmen, damit immer und überall herzliche Offenheit und Einfachheit herrschen.
Ein wirklich demütiger Mensch hört lieber andere sagen, dass er unbedeutend, armselig und zu nichts nütze ist, als es selbst von sich zu sagen; zum mindesten widerspricht er nicht, wenn andere es behaupten, und stimmt ihnen aufrichtig zu. Da er selbst fest davon überzeugt ist, freut er sich, wenn andere der gleichen Ansicht sind.
3. Manche sagen, sie überließen das innerliche Gebet den Vollkommenen, sie selbst seien nicht würdig, es zu pflegen. Andere beteuern, sie wagten nicht oft zur heiligen Kommunion zu gehen, weil sie sich nicht für rein genug hielten. Wieder andere fürchten, durch ihre Armseligkeit und Schwachheit dem Ruf der Frömmigkeit zu schaden, wenn sie sich darum bemühen. Andere weigern sich, ihre Fähigkeiten in den Dienst Gottes und des Nächsten zu stellen; angeblich kennen sie ihre Schwäche und fürchten stolz zu werden, wenn sie zum Guten beitragen, oder sich zu verzehren, wenn sie anderen Licht spenden. – Das alles ist unnatürlich; es ist nicht nur eine falsche, sondern eine böswillige Demut; mit dieser Begründung wagt man heimlich und hinterlistig Göttliches zu tadeln oder zum mindesten das Hängen an seiner Meinung, seinen Launen und seiner Bequemlichkeit mit einem Schein von Demut zu bemänteln.
„Erbitte von Gott ein Zeichen vom Himmel oben oder unten in der Tiefe des Meeres“, sagte der Prophet zum unseligen Ahas; dieser entgegnete: „Nein, ich will keines erbitten, ich will den Herrn nicht versuchen“ (Jes 7,11 f). Der Bösewicht tut, als hätte er große Ehrfurcht vor Gott, und weigert sich unter dem Vorwand der Demut, der Aufforderung Gottes gemäß eine Gnade zu erbitten. Erkennt er denn nicht, dass die Gnaden Gottes uns verpflichten, sie anzunehmen, dass die Demut uns den Wünschen Gottes auf das genaueste gehorchen und entsprechen lässt? Gott wünscht aber, dass wir durch die Vereinigung mit ihm, verbunden mit unserem Streben, ihm ähnlich werden, uns vervollkommnen (vgl. Mt 5,48). Gerade der Hochmütige, der auf sich selbst vertraut, hat allen Grund, kein Unternehmen zu wagen, der Demütige dagegen ist um so mutiger, je machtloser er sich selbst weiß, er wird in dem Maße kühner, als er sich selbst schwach fühlt, weil er dann sein ganzes Vertrauen auf Gott setzt, der sich darin gefällt, seine Allmacht in unserer Schwachheit zu verherrlichen und unsere Armseligkeit zum Thron seiner Barmherzigkeit zu machen. Es gilt also, demütig und vertrauend alles zu wagen, was unser Seelenführer für geeignet zu unserem Fortschritt erachtet.
4. Etwas zu wissen meinen, das man nicht weiß, ist offenkundige Dummheit; den Gelehrten spielen in Dingen, von denen man nichts versteht, ist eine unerträgliche Eitelkeit. Ich möchte nicht einmal den Fachmann spielen in Dingen, die ich wirklich verstehe, allerdings auch nicht den Unwissenden. Wenn es die Liebe verlangt, soll man ehrlich und schlicht dem Nächsten nicht nur das mitteilen, was er notwendig zu seiner Belehrung braucht, sondern auch, was ihm nützlich ist und ihn erbaut. Die Demut verbirgt die Tugenden, um sie zu bewahren, zeigt sie aber dann, wenn es die Liebe fordert, um sie zu mehren, zu stärken und zu vervollkommnen. Sie gleicht dem Baum auf der Insel Thylos, der seine schönen roten Blüten nachts schließt und erst bei Sonnenaufgang wieder öffnet; die Einheimischen sagen daher, dass die Blüten in der Nacht schlafen. So bedeckt und verbirgt auch die Demut alle unsere menschlichen Tugenden und Vollkommenheiten und lässt sie nur um der Liebe willen sichtbar werden; die Liebe ist ja keine menschliche, sondern eine himmlische, keine sittliche, sondern eine göttliche Tugend, die wahre Sonne der Tugenden, die sie stets beherrscht. Eine Demut, die der Liebe schadet, ist daher ohne Zweifel falsch.
5. Ich möchte weder den Verrückten spielen noch den Weisen. Die Demut hindert mich, als Weiser zu erscheinen, die Einfachheit und Aufrichtigkeit, mich als Verrückten zu geben. Die Eitelkeit ist der Demut entgegengesetzt, wie das Gekünstelte, Affektierte und Falsche der Aufrichtigkeit und Einfachheit. Wenn einzelne von den größten Gottesmännern den Narren spielten, um sich vor der Welt verächtlich zu machen, so muss man das wohl bewundern, aber nicht nachahmen. Sie hatten dafür ihre eigenen und so außergewöhnlichen Gründe, dass niemand für sich daraus Schlüsse ziehen darf. Wenn David vor der Bundeslade mehr tanzte und hüpfte, als es die Sitte erforderte, so tat er das nicht, um den Narren zu spielen, sondern aus der außergewöhnlichen, übergroßen Freude, die ihn im Innersten bewegte (2 Sam 6,14–16). Als ihm dann seine Frau Michal vorwarf, er habe sich närrisch benommen, war er über diese Beschuldigung nicht erbost, sondern gab sich weiter seiner echten, natürlichen Begeisterung hin und freute sich, für seinen Gott eine Schmähung zu ertragen. So soll es auch bei dir sein: Verachtet man dich wegen einer Handlung, die einer echten und schlichten Frömmigkeit entspringt, oder hält man dich deswegen für verrückt, dann wird die Demut dir helfen, dich über diese selige Schmach zu freuen, deren Ursache nicht in dir liegt, sondern in denen, die sie dir zufügen.
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