Verschiedene Weisungen über die Übung der Tugenden
Dritter Teil
     
 

HOME | VORIGES KAPITEL | INHALT | NÄCHSTES KAPITEL

26. Kapitel
Vom Reden – Wie man von Gott sprechen soll.

An der Zunge erkennen die Ärzte, ob ein Mensch gesund oder krank ist. So zeigen auch unsere Reden die Beschaffenheit unserer Seele an. „Auf Grund deiner Worte wirst du freigesprochen und auf Grund deiner Worte wirst du verurteilt werden“, sagt der Heiland (Mt 12,37). Wie wir sogleich unsere Hand auf eine schmerzende Stelle unseres Körpers legen, so lenken wir unsere Zunge auf den Gegenstand unserer Liebe.
Wenn du Gott innig liebst, wirst du auch gern mit deinen Hausgenossen, Freunden und Nachbarn von Gott sprechen, denn der Mund des Gerechten spricht Weisheit und seine Zunge redet recht (Ps 37,30). Die Bienen nehmen nichts anderes auf als Honig und ihre kleinen Rüssel sind voller Süßigkeit; so wird auch dein Sprechen ganz von Gott durchdrungen sein und deine Lippen werden keine größere Süßigkeit kennen, als ihn zu loben und zu preisen. So wird vom hl. Franziskus gesagt, dass er beim Aussprechen des heiligsten Namens die Süßigkeit förmlich auf seinen Lippen spürte.
Sprich von Gott in einer Weise, die Gottes würdig ist, d. h. ehrfürchtig und fromm, nicht großsprecherisch, selbstgefällig oder salbungsvoll, sondern sanft, liebevoll und demütig. Wie es von der Braut im Hohelied (4,11) heißt, so lass den köstlichen Honig der Frömmigkeit und des Göttlichen bald in dieses, bald in jenes Herz träufeln und bitte Gott im stillen, dieser heilige Tau möge bis ins Innerste deiner Zuhörer dringen.
Vor allem soll man dieses wirklich engelgleiche Werk in milder und gewinnender Art verrichten, nicht in nörglerischem Ton, sondern herzlich. Wie wunderbar gelingt es einem doch, Herzen zu gewinnen und mitzureißen, wenn man eine gute Sache geschickt und liebenswürdig vertritt!
Sprich also niemals von Gott aus reiner Gewohnheit oder um des Gespräches willen, sondern stets mit Aufmerksamkeit und Andacht. Ich sage dir das, weil ich an dir das dumme Getue der Betschwestern und Frömmler nicht sehen möchte, die bei jeder Gelegenheit ihre frommen Sprüche loslassen, ohne darüber im Geringsten nachzudenken. Nachher meinen sie dann, ihr Leben entspräche diesen Worten; das ist aber bestimmt nicht der Fall.

HOME | VORIGES KAPITEL | INHALT | NÄCHSTES KAPITEL

NACH OBEN