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  35. Kapitel
    Treu  sein im Großen und im Kleinen.
  Im Hohelied (4,9) sagt der Bräutigam, schon ein Blick, ein  Haar der Braut habe sein Herz entzückt. Am menschlichen Körper gibt es nichts  Edleres als das Auge und nichts Geringeres als das Haar. Der göttliche  Bräutigam will also sagen, dass ihm nicht nur die großen Werke der Frömmigkeit  wohlgefällig sind, sondern auch die kleinen und unscheinbaren. Wer ihm nach  seinem Wohlgefallen dienen will, muss den kleinen und weniger geachteten Dingen  ebensoviel Sorgfalt widmen wie den großen und erhabenen, denn mit dem einen wie  mit dem anderen können wir seine Liebe gewinnen.
    Sei also bereit, große Leiden, ja selbst den Martertod für  den Herrn auf dich zu nehmen; sei entschlossen, ihm das Kostbarste zu opfern,  wenn er es verlangen sollte: Vater, Mutter, Bruder, Gatten oder Gattin und  Kinder, deine Augen sogar und dein Leben; dies alles hinzugeben, soll dein Herz  bereit sein. Da dir aber die göttliche Vorsehung nicht so schmerzliche und  große Prüfungen schickt, da sie nicht die Augen von dir fordert, so gib ihr  wenigstens deine Haare, d. h. ertrage gelassen die kleinen Schwierigkeiten und  Unannehmlichkeiten, die kleinen alltäglichen Opfer. Mit jedem dieser  kleinen Geschenke kannst du seine Liebe gewinnen, wenn du in sie viel Liebe und  Hingabe hineinlegst. Diese täglichen kleinen Liebesdienste, das Kopfweh und die  Zahnschmerzen, das Geschwür und die üble Laune des Mannes oder der Frau, ein  zerbrochenes Glas, ein geringschätziges oder unwilliges Wort, der Verlust eines  Ringes oder Taschentuchs, die kleine Unbequemlichkeit, früh schlafen zu gehen,  um früh zu Gebet und Kommunion aufzustehen, die Scheu, gewisse Übungen der  Frömmigkeit öffentlich zu verrichten, kurz alle diese kleinen Leiden in Liebe  angenommen und ertragen, erfreuen die göttliche Güte überaus, die für ein  einziges Glas Wasser das Meer der Seligkeit den Gläubigen versprochen hat (vgl.  Mt 10,42). Da sich solche Gelegenheiten sehr oft bieten, können wir durch sie  große geistliche Reichtümer anhäufen, wenn wir sie gut benützen.
    Als ich im Leben der hl. Katharina von Siena so viel von  Ekstasen und Entrückungen des Geistes, von weisen Reden und sogar von Predigten  hörte, die sie hielt, da zweifelte ich nicht daran, dass sie mit dem Auge ihrer  Beschauung das Herz des himmlischen Bräutigams entzückte. Aber es hat mich  nicht weniger erfreut, sie in der Küche ihres Vaterhauses demütig das Feuer im  Herd anmachen, Fleisch zubereiten, Brot backen und die unbedeutendsten  Hausarbeiten mit einem Herzen voll Liebe gegen Gott verrichten zu sehen. Und  ich schätzte die kleinen und schlichten Gedanken, die sie bei diesen niedrigen  und gewöhnlichen Arbeiten hegte, nicht minder hoch als die Ekstasen und  Verzückungen, mit denen sie oft begnadet war, vielleicht nur als Belohnung für  diese Demut und Bescheidenheit. Ihre Gedanken aber waren die: Sie stellte sich  vor, dass sie das Mahl wie die hl. Marta für den Heiland bereite statt für  ihren Vater, sie sah in ihrer Mutter Unsere liebe Frau, in ihren Brüdern die  Apostel. So ermunterte sie sich, im Geist dem ganzen himmlischen Hof zu dienen  und verrichtete diese gewöhnlichen Arbeiten mit so großer Liebe, weil sie in  ihnen den Willen Gottes erkannte. Ich habe dieses Beispiel angeführt, um dir zu  zeigen, wie wichtig es ist, alle Handlungen, so unscheinbar sie auch sein  mögen, dem Dienst der göttlichen Majestät zu weihen.
    Dafür empfehle ich dir eindringlich die von Salomo so  gepriesene starke Frau als Vorbild; wie er sagt, legt sie Hand an Großes,  Erhabenes und Wichtiges, ohne darüber das Spinnen zu unterlassen: „Sie hat die  Hand an Großes gelegt, ihre Finger fassen die Spindel“ (Spr 31,19). Lege die  Hand an Großes, übe dich im innerlichen Gebet, in der Betrachtung, empfange die  Sakramente, flöße anderen die Liebe zu Gott ein, senke in ihre Herzen gute  Regungen, wirke Großes und Wichtiges je nach deinem Beruf; darüber aber vergiss  nicht deinen Spinnrocken und deine Spindel, d. h. übe die kleinen und  bescheidenen Tugenden, die wie Blumen am Fuß des Kreuzes wachsen: Armendienst,  Krankenbesuche, gewissenhafte Sorge für die eigene Familie mit allem, was dazu  gehört, fleißige Arbeit, die dich nie müßig sein lässt. In all dies flicht  ähnliche Gedanken ein, wie ich sie von der hl. Katharina erzählte.
    Die großen Gelegenheiten, Gott zu dienen, sind selten:  kleine gibt es immer. Wer aber im Kleinen treu ist, sagt der Heiland, den wird  man über Großes setzen (Mt 25,21). Verrichte also alles im Namen Gottes (Kol  3,17) und es wird gut getan sein. Ob du isst oder trinkst (1 Kor 10,31), dich  erholst oder am Herd stehst: wenn du deine Arbeit gut verrichtest, wirst du  großen Nutzen vor Gott haben, wenn du alles tust, weil Gott es von dir  verlangt.
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