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6. Kapitel
Wie können Versuchung und Lust Sünde sein?
Die Prinzessin, von der wir sprachen, trifft keine Schuld an dem unanständigen Antrag, der ihr gegen ihren Willen gemacht wurde. Wäre sie dem, der um ihre Gunst warb, auch nur im Geringsten entgegengekommen, so wäre sie ohne Zweifel mitschuldig und verdiente Tadel und Strafe, wenn sie auch noch so sehr die Beleidigte spielen wollte.
So kann zuweilen schon die Versuchung selbst Sünde sein, weil wir sie verursacht haben. Ich weiß z. B., dass ich beim Spielen leicht zornig werde und fluche; das Spielen bringt mich in diese Versuchung. Dann sündige ich, sooft ich spiele, und bin schuld an allen Versuchungen, die mir beim Spielen kommen. Ich weiß, dass bestimmte Gesellschaften mich in Versuchung führen und zu Fall bringen; gehe ich freiwillig hin, so bin ich ohne Zweifel verantwortlich für alle Versuchungen, die dort über mich kommen werden.
Wenn die Lust, die aus der Versuchung entsteht, zurückgewiesen werden kann, ist es Sünde, sie anzunehmen; die Sünde ist groß oder gering, je nach dem Grad und der Dauer der Freude daran. Es wäre gewiss schlecht von jener Prinzessin, wenn sie den schmutzigen, unehrbaren Antrag nicht nur anhörte, sondern nachher noch mit Freude darüber nachdächte. Will sie auch das Schlechte nicht wirklich ausführen, das ihr angetragen wird, so hat sie ihm doch geistigerweise ihr Herz zugewandt durch das Wohlgefallen daran. Es ist aber immer unanständig, wenn Herz und Sinne sich mit Unehrbarem beschäftigen; ja, die Unlauterkeit liegt gerade darin, dass das Herz dafür eingenommen wird, denn der Leib kann gar nicht sündigen, wenn es nicht zustimmt.
Wirst du also zu einer Sünde versucht, so prüfe, ob du dazu bewusst Anlass gegeben hast; dann wäre schon die Versuchung selbst Sünde, weil du dich der Gefahr der Sünde ausgesetzt hast. Das ist dann der Fall, wenn man der Gelegenheit leicht aus dem Weg gehen und die Versuchung voraussehen konnte oder musste. Hast du aber keinen Anlass zur Versuchung gegeben, dann kann sie dir in keiner Weise als Sünde angerechnet werden.
Konntest du die mit der Versuchung verbundene Lust abwehren, hast es aber unterlassen, so ist das Sünde; du sündigst mehr oder minder schwer je nach der Zeit, die du dabei bleibst, und nach der Ursache dieser Lust. Eine Frau, die keinen Anlass gegeben hat, dass man ihr den Hof macht, daran aber Freude hat, tut Unrecht, wenn der Grund ihrer Freude nur das Hofiertwerden ist. Wenn aber ein Verehrer schön auf einem Instrument spielt, um ihre Gunst zu gewinnen, dann wäre es keine Sünde, wenn sie zwar nicht an seiner Werbung, wohl aber an der Schönheit seines Spiels Freude hätte. Sie sollte sich aber hüten, lange bei dieser Freude zu verweilen, sonst besteht die Gefahr, dass sie auch an seinem Antrag Freude bekommt. Wenn mir jemand einen schlauen und raffinierten Plan entwirft, mich an einem Feind zu rächen, dann sündige ich gewiss nicht, wenn ich der Rache nicht zustimme, aber an der Schlauheit des Planes Gefallen finde. Es wäre aber nicht klug, sich lang damit zu beschäftigen, weil sonst schließlich auch die Rachegedanken Besitz von mir ergreifen werden.
Es kommt manchmal vor, dass wir von der Lust, die auf die Versuchung folgt, überrumpelt werden, ehe wir Zeit haben, uns vor ihr zu sichern. Das ist dann höchstens eine kleine lässliche Sünde; sie würde aber größer, wenn wir leichtsinnig länger mit der Lust unterhandelten, ob wir nachgeben oder widerstehen sollen, obwohl wir die Gefahr sehen, in der wir schweben. Noch ernster wird die Sünde, wenn man bewusst längere Zeit bei der Lust verweilt aus reiner Nachlässigkeit, ohne den Vorsatz, sie zu verwerfen. Ist man aber freiwillig und nach reiflicher Überlegung entschlossen, sich der Lust hinzugeben, so ist dieser überlegte Entschluss bereits eine schwere Sünde, wenn der Gegenstand der Lust sehr schlecht ist. Eine Frau ist schon lasterhaft, wenn sie sündhafte Liebschaften unterhält, selbst wenn sie nicht die Absicht hat, sich ihrem Liebhaber ganz hinzugeben.
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