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  11. Kapitel
    Von  der Unruhe.
  Die Unruhe ist nicht einfach eine Versuchung,  sondern die Quelle vieler Versuchungen. Die Traurigkeit ist ein seelischer Schmerz über  ein Übel, das uns gegen unseren Willen zustößt, gleichgültig, ob dieses Übel  von außen kommt wie Armut, Krankheit, Verachtung, oder unserem Geist anhaftet  wie Unwissenheit, geistliche Dürre, Widerwillen, Versuchung. Wenn die Seele  fühlt, dass sie von einem Übel betroffen wird, dann ist sie darüber missgestimmt,  dass ihr etwas mangelt; das ist die Traurigkeit. Sie möchte sofort davon frei  werden und sieht sich nach Mitteln dafür um. Soweit handelt sie richtig, denn  jedermann sucht sein Wohl und flieht, was er für ein Übel hält.
    Sucht nun die Seele nach Mitteln zur Befreiung vom Übel,  weil sie Gott liebt, so wird sie sich darum geduldig, demütig, sanftmütig und  ruhig bemühen und die Befreiung mehr von der Güte der Vorsehung Gottes erhoffen  als von ihrem eigenen Bemühen, ihrer Anstrengung und Geschicklichkeit. Strebt  sie diese Befreiung aber aus Eigenliebe an, so wird sie sich auf der  Suche nach den geeigneten Mitteln aufregen und erhitzen, als ob ihr Wohl mehr  von ihr selbst als von Gott abhinge. Ich sage nicht, dass sie das denkt,  sondern ich sage, sie regt sich auf, als ob sie so dächte.
    Findet sie nun nicht, was sie wünscht, dann kommt große Unruhe  und Ungeduld über sie. Das Übel weicht nicht, es wird im Gegenteil  schlimmer, die Seele wird zutiefst geängstigt und verzagt. Mut und Kraft  schwinden dahin, sodass ihr das Übel schließlich unüberwindlich scheint. So  gebiert die anfangs vernünftige Traurigkeit die Unruhe, diese Unruhe wieder  bewirkt ein Wachsen der Traurigkeit, die dann äußerst gefährlich wird.
    Die Unruhe ist nach der Sünde das größte Übel, das eine Seele treffen  kann. Wie Bürgerkriege und Aufstände einen Staat ruinieren und so schwächen, dass  er einem Feind von außen keinen Widerstand mehr zu leisten vermag, so verliert  auch die Seele durch Verwirrung und Unruhe die Kraft, bereits erworbene  Tugenden zu bewahren, und damit auch die Fähigkeit, den Versuchungen des  Feindes zu widerstehen, der dann sehr eifrig bemüht ist, in diesen aufgewühlten  Wassern zu fischen.
    Die Unruhe entspringt dem ungeordneten Wunsch nach  Befreiung von einem schmerzlich empfundenen Übel oder nach Erlangung von heiß  ersehnten Gütern. Dabei verschlimmert nichts so sehr das Übel, rückt nichts so  sehr das ersehnte Gut in die Ferne wie Unruhe und Hast. Die Vögel verstricken  sich in den Netzen, weil sie hin- und herflattern, um zu entkommen, unruhig um  sich schlagen und sich dadurch nur noch mehr verfangen.
    Wenn dich also der Wunsch bedrängt, von einem Übel befreit  zu werden oder ein Gut zu gewinnen, so beruhige vor allem deinen Geist,  mäßige Urteil und Verlangen, dann bemühe dich in aller Ruhe darum, indem du die  dafür geeigneten Mittel anwendest. Wenn ich „ruhig“ sage, meine ich nicht  nachlässig, sondern ohne Hast, ohne Aufregung und Unruhe. Handelst du nicht so,  dann wirst du, statt dein Ziel zu erreichen, alles zugrunde richten und selbst  noch mehr in Verwirrung geraten.
  „Meine Seele ist stets in meiner Hand, o Herr, ich habe Dein  Gesetz nicht vergessen“, betete David (Ps 119,109). Prüfe dich täglich  mehrmals, wenigstens am Morgen und am Abend, ob du deine Seele in der Hand  hast oder ob irgendeine Leidenschaft oder Unruhe sie deiner Kontrolle  entzogen hat. Schau, ob das Herz deinen Befehlen gehorcht oder ihnen ausweicht  und sich in ungeordnete Affekte der Liebe oder des Hasses, der Sehnsucht und  Furcht, des Ärgers oder der Freude verwickelt hat. Ist dein Herz in die Irre  gegangen, dann geh es vor allem suchen, führe es ganz behutsam in die Gegenwart  Gottes zurück und stelle von neuem deine Affekte und Wünsche unter den  Gehorsam, unter die Führung seines göttlichen Willens. Wer einen kostbaren  Gegenstand zu verlieren fürchtet, hält ihn stets sorgsam in der Hand; so wollen  auch wir wie der Psalmist beten: „Mein Gott, meine Seele ist gefährdet, deshalb  trage ich sie in meinen Händen, so habe ich Dein heiliges Gesetz nicht  vergessen.“
    Gestatte nie deinen Wünschen, auch nicht unwichtigen,  dich zu beunruhigen. Nach kleinen würden auch große und wichtige Wünsche  in deinem Herzen einen geeigneten Nährboden finden für Unruhe und Aufregung.  Fühlst du Unruhe über dich kommen, so bete zu Gott, sei entschlossen, keinem  deiner Wünsche nachzugeben, bevor sich die Unruhe gelegt hat, außer es handelt  sich um etwas Unaufschiebbares. In diesem Fall musst du mit ruhig-festem Bemühen  den stürmischen Wünschen Einhalt gebieten, sie beruhigen und mäßigen, soweit es  dir möglich ist, und dann die Sache ausführen, nicht nach deinen Wünschen,  sondern nach der Vernunft.
    Kannst du die Unruhe deinem Seelenführer oder sonst  einem vertrauten und frommen Freund offenbaren, dann darfst du versichert sein,  dass du bald die Ruhe finden wirst. Denn die Mitteilung seelischer  Schwierigkeiten wirkt auf die Seele, wie der Aderlass auf den fiebernden Körper,  sie ist das Beste aller Heilmittel. Deshalb gab auch der heilige König Ludwig  seinem Sohn den Rat: „Fühlst du dich im Herzen irgendwie beklemmt, sag es  sogleich deinem Beichtvater oder einem anderen guten Menschen, und du wirst  gestärkt werden, um dein Leid leichter zu tragen.“
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